Montag, 23. Januar 2012

Der Mann, der den Kommunismus zum Einsturz brachte

Da springen doch viele auf mit dem Wort "Gorbi! Gorbi!" auf den Lippen.
Ach Gorbi - er war sicher der beste seiner Zunft, und dass er jetzt Werbung für Louis Vuitton macht, sei ihm gegönnt. Den Kommunismus hat er aber bis zuletzt nicht in Frage gestellt, und der erste und letzte Präsident der UdSSR war er auch. 

Der Mann, der den Kommunismus zum Einsturz brachte, ist Anatolij Martschenko, ein sibirischer Arbeiter, und heute wäre er 74 Jahre alt geworden. Es gibt ihn nicht mehr, dem man gratulieren könnte. Ich gratuliere daher mir selbst, dass es ihn gab und dass ich ihn kenne. 




Martschenko wurde 1938 in einer sibirischen Provinzstadt in einer Familie von Arbeitern geboren. Beide Eltern konnten weder lesen noch schreiben. Martschenkos spätere Erinnerungen an die unsagbare Armut seiner Kindheit sind erschütternd. Sein Weg schien vorgezeichnet. Nach 8 Klassen Schule wird er Bohrmeister in einem Wasserkraftwerk. Mit 19 wird er wegen einer Schlägerei festgenommen und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Mich hat es sehr beeindruckt, dass er die Tatsache seiner Unschuld (er hat sich an der Schlägerei gar nicht beteiligt) später gar nicht erwähnen wollte: Mit dem berechtigten Argument, dass dies nichts zur Sache tut. 
Er flieht und versucht die Grenze zum Iran zu überqueren (das Bewusstsein, dass man in der Sowjetunion nicht leben kann, hatte er wohl schon sehr früh). Er wird festgenommen und wieder verurteilt - diesmal als "politischer Gefangener". Das bereitet seine spätere Laufbahn: In den "Versandgefängnissen" und in Lagern kommt er in Kontakt zu den anderen "politischen Häftlingen", den Dissidenten. Als Autodidakt bildet er sich unentwegt. Für mich persönlich ist es unfassbar, dass ein Mensch aus den einfachsten Verhältnissen das Wesen der kommunistischen Ideologie selbst begreift und sich diesem Verbrechen stellt. Während die meisten der "Politischen" noch Lenin nachtrauern und meinen, die Sowjetunion habe die "sozialistischen Ideale verraten", sieht Martschenko in der Kommunistischen Partei eine Verbrecherbande und im KGB eine Verbrecherorganisation. Bei seinen späteren Festnahmen, vor Gericht, im Gefängnis, in den Jahren des sibirischen Exils weigert er sich mit der Macht zu kooperieren und ignoriert sie völlig mit diesen Argumenten. Ich weiß nicht, ob es viele Menschen von dieser Sorte gab. 
Nach seiner ersten Lageraufenthalt schreibt er sein Buch "Meine Aussage" (Ins Deutsche wurde der Titel mit "Meine Aussagen" im Plural übersetzt - ich halte es für wenig gelungen, da die eindeutige juristisch-gerichtliche Konnotation meines Erachtens verschwindet). Das Buch wird in den Westen verschafft und macht Furore. In Russland wird Martschenko als Samisdat-Autor bekannt. I nseinen wenigen Jahren in Freiheit engagiert er sich als Menschenrechtler, warnt vor dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei und wird Tage später verhaftet. 
Zwei weitere autobiographische Bücher folgen - heimlich geschrieben und heimlich publiziert, man kann sich diese Strapazen kaum vorstellen. 
1981 wird Martschenko zum letzten Mal verhaftet. Im Sommer 1986 tritt er in den Hungerstreik mit der Forderung, alle politischen Gefangenen in der Sowjetunion freizulassen. Dieser Hungerstreik ist ein Rätsel: Martschenkos Freunde beschreiben ihn als einen vernünftigen Menschen, der sich nicht zum Freitod entschließen würde (zumal in der Freiheit seine Frau und sein Sohn auf ihn warteten). Offenbar hat Martschenkos Intuition oder auch  sein Wissen ihn nicht verraten: Die Zeit war reif, solche Forderungen aufzustellen. Nach 117 Tagen bricht er seinen Streik ab. Mehr weiß man nicht - Kontakte nach außen waren verboten, mit seiner Frau kommuniziert Martschenko mit chiffrierten Briefen. Zwei Wochen später kommt es zu einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands (nach den Lageraufenthalten war Martschenko eh auf einem Ohr taub, hatte eine Hirnhautentzündung und wurde im Winter 1984 mit unbekannten Folgen vom Wachpersonal zusammengeschlagen). 

Er stirbt am 8. Dezember 1986. Man wird nie erfahren, woran er wirklich gestorben ist. Man wird nie erfahren, wen er in seinen letzten Tagen gesehen hat, was er gesprochen hat, was er gewusst hat. 
Zur Erinnerung - zeitgleich wirbt Wladimir Putin in Dresden seine IMs ein. Myke Tyson wird Weltmeister. Im Radio läuft "Brother Louie". Zwei Wochen nach Martschenkos Tod ruft Gorbatschow Andrej Sacharow in dessen Gorki-Exil an und lässt ihn zurückkommen. Danach kommen nach und nach alle politischen Gefangenen der Sowjetzeit frei. 

Und jetzt? Martschenko ist seit 26 Jahren tot. Putin lässt Wahlen fälschen, sich im Westen hofieren und unterzieht sich Botox-Behandlungen. Menschen, die Martschenko verfolgt und gequält haben, sind wohl zum großen Teil noch am Leben. Der FSB lässt große Feiern zu seinen "Jubiläen" ausrichten. 

Ich habe eine Faszination für Menschen mit außergewöhnlichen Schicksalen (Dissidenten, Künstler, Diktatoren, Serienkiller). Mich interessiert immer wieder, was sie gedacht haben, wie sie gefühlt haben, was ihnen die Lebenskraft gab. Anatolij Martschenko ist ein Ausnahmefall. Das ist ein Mensch, der so viel Mut, soviel Intelligenz und so viel Kraft besaß, dass ich mich immer wieder frage: Woher nahm er diese Kraft? Es finden sich keinerlei Anzeichen dafür, dass er gläubig war. Wie aber konnte er fast sein ganzes Erwachsenenleben hinter Gittern verbringen, und das auch noch bewusst? Teilweise beantwortet er dies selbst im Vorwort zu "Meine Aussage": 

"Als ich im Wladimirer Gefängnis saß, fühlte ich immer wieder Verzweiflung. Hunger, Krankheiten und  - vor allem - Hilflosigkeit, die Unmöglichkeit, gegen das Böse zu kämpfen brachten mich immer wieder auf den Gedanken, einen Wachmann zu überfallen - mit dem einzigen Ziel, zu sterben. ... Eins hat mich davon abgehalten, eins hat mir die Kraft gegeben, diesen Albtraum zu überleben - die Hoffnung, dass ich herauskomme und darüber erzählen werde, was ich erlebt hatte. Ich habe mir selbst das Wort gegeben, für dieses Ziel alles auszuhalten und zu erdulden."  

Der Sowjetstaat hat einen ehrlichen, klugen und unnachgiebigen Menschen vernichtet - der letztlich über den Tod hinaus gesiegt hat. Warum musste das alles sein? Ich weiß nicht einmal, warum ich das alles hier schreibe und ob das jemand interessiert. Anatolij Matschenko hätte heute noch leben können. In Russland ist er kaum bekannt, und die Erinnerung an ihn wird wahrscheinlich mit den Jahren immer mehr verblassen. Kann man "für etwas sterben"? Stirbt man immer "umsonst"? Kann man auch im Tod über eine seelenlose Maschinerie siegen? 
Egal, heute trinke ich mal ein Gläschen auf sein Wohl im Himmel.