Freitag, 16. November 2012

Und schon wieder die Pussies!
Jetzt wird von Putin die nächste Sau durchs Dorf getrieben! Mannomann!
Ich reibe mir gerade die Augen:



Putin nennt Pussy Riot antisemitisch


einer antisemitischen Aktion teilgenommen, sagte Putin am Freitag während einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Moskau im Rahmen der deutsch-russischen Regierungskonsultationen. "Wir und ich können keine Leute unterstützen, die antisemitische Positionen zur Schau stellen", sagte Putin. Er bezog sich mit seinen Bemerkungen offenbar auf eine Aktion im Jahr 2008 in einem Moskauer Supermarkt, an der eine der Sängerinnen teilgenommen hatte.


Witzigerweise existierte die Gruppe Pussy Riot 2008 noch gar nicht.

Die besagte Aktion wurde von der (nicht weniger skandalträchtigen) Gruppe "Vojna" durchgeführt (zu der zumindest Nadezhda Tolokonnikowa, eine der späteren Pussies gehörte. 

Und jetzt kommt das Wichtigste - bei dr Aktion ging es um eine symbolische Aufhängung von einem Juden, einem Homosexuellen und einem Gastarbeiter aus Mittelasien.  Sehr provokant, sehr unappetitlich und "unschön". Die Erklärung der Gruppe dazu klingt wie eine Persiflage der üblichen Lamenti bestimmter Bevölkerungsteile gegen die "Morallosigkeit" der "Kosmopoliten" und "Pederasten" - die Aktion ist also eine Anklage gegen den Antisemitismus, die Homophobie und Xenophobie

Da man nicht davon ausgehen kann, dass Putin dies nicht verstanden hat, kann man nur schließen, dass seine Infomänner extrem schlecht arbeiten. 




Montag, 12. November 2012

Noch etwas russische Schwarzmalerei:

Meine Heimatstadt Kasan, die Stadt der Universiade 2013, mitten in den fieberhaften Vorbereitungen zu dem Event.

Alles soll behindertengerecht sein.

Was das in Russland heißt, zeigt dieser unerwartet spannende und sehr traurige Film Thriller.

(Um Untertitel mit Übersetzung anzuzeigen, auf den Youtube-Link klicken).



Donnerstag, 8. November 2012

Noch etwas zu Pussy Riot


Eine russische Praktikantin unserer Regionalzeitung hat drei "junge Moskauer" interviewt. Es ging auch um Pussi Riot. 
Nach der Lektüre habe ich es nicht mehr ausgehalten und einen Leserbrief dazu geschrieben. Jedes Affentheater muss doch irgendwann zu Ende sein. 
Jetzt geht es mir irgendwie besser :) Hier der Text und der Link:
"Als gebürtige Russin finde ich es sehr bezeichnend, wie einseitig die Debatte um die Pussy-Riot-Gruppe in den Interviews der drei jungen Moskauer von Alexandra Jakowlewa dargestellt wird. Eine unglaubliche verbale Aggression gegen Pussy Riot und Kolportagen aus Stammtischgerüchten und monopolisierten Nachrichtensendungen sind offenbar sehr typisch für viele Russen – nur dass man von der künftigen intellektuellen Elite des Landes etwas mehr Reflexion erwartet hätte.
So behauptet der Politikwissenschaftler Alexander Stikhin, der „zügellose Streich“ von Pussy Riot hätte „alle Moralnormen“ verletzt und „sittliche Werte“ missachtet. Als Leser hat man geradezu Schwierigkeiten sich vorzustellen, was man denn anstellen müsste, um alle Moralnormen zu verletzen – konkret wird kein einziger Verstoß genannt. Weiter behauptet der junge Mann, die orthodoxe Kathedrale sei entweiht gewesen. Zum einen ist „Entweihung“ ein Begriff aus dem Kirchenrecht, so dass ein weltliches Gericht sie hätte gar nicht bestrafen können (und in Russland ist die Kirche – noch? – nicht staatlich). Zum anderen ist diese Behauptung schlichtweg falsch, denn das Kirchengebäude wurde durch die Aktion gerade nicht entweiht, was der Küster der Erlöserkathedrale auch recht früh mitteilte.
Die orthodoxe Studentin Maria Dmitrieva „meint“, die Gefühle orthodoxer Gläubiger seien verletzt worden. Es ist selbstverständlich ihr persönliches Recht, so zu empfinden. Vor Gericht gelten allerdings Expertisen, die eine Verletzung der Gefühle nachweisen müssen. Die Expertise zu der Pussy-Riot-Aktion, auf die sich das gerichtliche Urteil stützt, wird von vielen Wissenschaftlern scharf kritisiert: Sie arbeitet mit fragwürdigen Methoden, fälscht Tatsachen und erfüllt somit keineswegs die Standards, die man an eine wissenschaftliche Expertise stellt. Die Kritiker der so genannten Expertise (z. B. die Petersburger Wissenschaftlerinnen Irina Lewinskaja und Walentina Usunowa) entdecken in der Aktion von Pussy Riot keinerlei Anhaltspunkte für religiösen Hass oder Verletzung der Gefühle orthodoxer Christen (was im Übrigen die Angeklagten selbst immer wieder betont hatten). Wenn man sich den Text des „Punk-Gebets“ vor Augen führt, ist das auch für jeden religiösen oder juristischen Laien offensichtlich.
Die „kritische Studentin“ Ekaterina Anokhina vermisst bei Pussy Riot „jeden ästhetischen Geschmack“. Die junge Frau weiß offenbar nicht, dass es bei der Aktionskunst nie um „Schönheit“ geht. Der Text des „Punk-Gebets“ ist provokant, die Vortragsweise laienhaft und „unschön“, was nichts an einer Tatsache ändert: Es handelt sich um einen politischen, feministisch geprägten Protest gegen die Macht Putins und deren Verbindungen zur korrupten Kirchenspitze. Es scheint keinem der interviewten jungen Moskauer negativ aufzufallen, dass nach dem fragwürdigen Urteil zwei junge Frauen wegen eines politischen Protests für zwei Jahre Straflager verurteilt worden sind und eine von ihnen, Nadezhda Tolokonnikowa, nach Mordowien verschickt wurde – in ein berühmt-berüchtigtes Lager für politische Gefangene der Breschnew-Ära.
Der „zielstrebige“ Politikwissenschaftler Stikhin endet mit dem Hinweis auf frühere Verfolgungen der Kirche in Russland und das fehlende Bewusstsein für die Sühne. Er sollte sich fragen, welche Institutionen die Kirche verfolgt haben und in welcher Verbindung zu diesen Institutionen (zum KGB und zur KPdSU etwa) der gegenwärtige russische Präsident sowie sein Machtapparat stehen. Vielleicht versteht er dann, wer was in Russland sühnen müsste."

Mittwoch, 8. August 2012

Mädels, ihr seid toll!



Die Musikerinnen der russischen Punk-Band Pussy Riot Jekaterina Samuzewitsch, Nadeschda Tolokonnikova und Maria Aljochina (Bild: picture alliance / dpa / Valery Sharifulin)Die Musikerinnen der russischen Punk-Band Pussy Riot Jekaterina Samuzewitsch, Nadeschda Tolokonnikova und Maria Aljochina (Bild: picture alliance / dpa / Valery Sharifulin)

Pussy Riot erteilen Richtern eine Kunst-Lektion

Schlussworte der drei Künstlerinnen in Moskauer Prozess

Von Gesine Dornblüth

Für ihre provokante Aktion in einer Kathedrale müssen die russischen Punkerinnen von Pussy Riot vermutlich ins Gefängnis. Doch vor Gericht hatten die drei Frauen am Mittwoch noch einen großen Auftritt. Zu erleben war eine Nachhilfestunde in Philosophie, Literatur und moderner Kunst.
Die drei jungen Frauen von Pussy Riot nutzten ihre Schlussworte heute für eine Art Nachhilfestunde in Philosophie, Literatur und moderner Kunst. Den Anfang machte die 22-jährige Nadjeschda Tolokonnikowa, Philosophiestudentin und Wortführerin der Band. Sie bezeichnete den Prozess als "mittelalterliche Inquisition". Und sie zitierte Alexander Solschenizyn. Er hat gesagt, dass Worte Beton zum Einsturz bringen. Tolokonnikowa verwies ferner auf das Schicksal der Oberiuten, einer avantgardistischen Künstlervereinigung im Petersburg der 20er-Jahre. Die sowjetische Führung verbot die Bewegung als angeblich staatsfeindlich, ein Mitglied, der Schriftsteller Danijl Charms, verhungerte im Gefängnis, ein anderer, Alexander Wwedenskij, starb auf einem Gefangenentransport.

Tolokonnikowa: "Die Oberiuten haben mit dem Preis des eigenen Lebens bewiesen, dass ihr Eindruck der Sinnlosigkeit und Alogik ihrer Epoche richtig war. Die Oberiuten sind tot, aber sie leben. Sie wurden bestraft, aber sie sterben nicht."

Allerdings ist das Verständnis für Avantgarde, für moderne Kunst, für alternative Denkweisen insgesamt bis heute in Russland nicht sehr verbreitet. Das war heute das Thema von Maria Aljochinas kurzer Ansprache vor Gericht.

"Das russische Bildungssystem ignoriert die Persönlichkeit der Kinder. Im Ergebnis wird dabei moderne Kunst marginalisiert. Es gibt keine Motivation zum philosophischen Denken oder zum Überwinden von Geschlechterstereotypen. Die Bildungseinrichtungen bringen dem Menschen von klein auf bei, automatisiert zu leben und keine Fragen zu stellen. Von Kind an vergisst der Mensch dadurch seine Freiheiten."

Einmal mehr wurde heute klar: Die drei Künstlerinnen, Nadjeschda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch, wussten ganz genau, was sie taten, als sie im Februar in der Moskauer Kathedrale auftraten. Es war eine bewusste Provokation, um die Verschmelzung von Kirche und Staat in Russland aufzuzeigen. Vermutlich müssen die Frauen dafür ins Gefängnis, doch heute hatten sie noch einmal einen großen Auftritt, und Tolokonnikowa machte er sichtlich Spaß. Mit einem süffisanten Lächeln wandte sie sich an die Richterin:

"Erinnern Sie sich, wofür der junge Dostojewskij zum Tode verurteilt wurde? Seine Schuld bestand darin, dass er sich für den Sozialismus begeisterte und ein paar Freidenker zusammenrief, die sich freitags trafen. An einem der letzten Freitage hat er einen Brief von Belinskij an Gogol laut vorgelesen, der, so das Gericht, voll war von - Achtung - 'unverschämten Ausdrücken gegen die russisch orthodoxe Kirche und die Obrigkeit'."

Genau das warf die Anklage den jungen Frauen von Pussy Riot in den vergangenen Tagen vor: Sozialismus, unverschämte Ausdrücke gegen die russisch orthodoxe Kirche und die Obrigkeit.

Auch Maria Aljochina verwies auf frühere Prozesse gegen Schriftsteller.

"Mich ärgert sehr, wenn die Anklage von 'sogenannter' moderner Kunst spricht. Während des Prozesses gegen den Dichter Josef Brodskij in der Sowjetunion geschah genau das gleiche. Da war von 'sogenannten Gedichten' Brodskijs die Rede. Für mich ist dieser Prozess ein 'sogenannter' Prozess. Und ich habe keine Angst vor Ihnen und vor dem Urteil dieses 'sogenannten' Gerichts."

Nadjeschda Tolokonnikowa schloss ihren Auftritt mit einem Lächeln auf den Lippen.

"Zum Schluss will ich aus einem Lied der Gruppe Pussy Riot zitieren. Denn ihre Lieder haben sich als prophetisch erwiesen. Insbesondere unsere Prophezeiung, dass der Chef des KGB und der Allerheiligste die Protestierenden im Konvoi in Untersuchungshaft führen. Jetzt aber das Zitat: 'Öffnet alle Türen, nehmt die Schulterklappen ab und spürt mit uns den Geruch der Freiheit.'"

Die Richterin unterband den Applaus mit dem Hinweis, man sei hier nicht im Theater. Doch genau diesen Eindruck hatte man all die Prozesstage: Den eines absurden Theaters - in der Tradition von Danijl Charms.

Dienstag, 8. Mai 2012


Mein Urgroßvater Wladimir kam bis Budapest und verlor dort ein Bein.
Meine beiden Großväter, Alexej und Altaf, kamen als ganz junge Kerle bis Berlin.
Die Familien litten und hungerten in Zentralrussland.
Für alle war der Krieg ein Trauma und ein Unglück.

Während die heutige "russische Regierung" mit allen Mitteln versucht, den Tag des Sieges für sich zu usurpieren, bleibt es unser Feiertag. In ewigem Gedenken an die Gefallenen und Ermordeten und mit großem Dank an alle Kämpfer.

Samstag, 5. Mai 2012

Kurz nach dem 5. März 1953, dem Todestag Stalins, sagte meine Urgroßmutter Pelagea, Gott habe sie selig, zu ihren Kindern: "Endlich ist die Sau tot."

Ich hoffe, sie musste sich nicht im Grabe umdrehen, denn heute, am 5.5.2012 fahren in Russland solche Busse:



Das ganze soll das russische Volk auf den Tag des Sieges am 9. Mai vorbereiten und eine "positive Note" in die Feierlichkeiten bringen.

Es ist so, als würde man Busse in Deutschland mit Hitlers Konterfei schmücken mit der Begründung, er habe doch "Autobahnen gebaut und es gab damals keine Arbeitslosigkeit".

Prost.

Montag, 27. Februar 2012

Ganze drei Leser - damit hatte ich gar nicht gerechnet, deswegen sah ich hier gar nicht rein!
Danke, ihr Lieben, für eure freundlichen Worte.
Zu den Fragen:
Der Sohn Martschenkos tauchte ganz kurz in einem Dokumentarfilm auf - ein sympathischer stiller junger Mann (er ist nur ein Jahr älter als ich, und die Aufnahme schien nicht ganz neu zu sein). Mehr konnte ich über ihn nicht finde, ich schließe nicht aus, dass er in Israel lebt, da seine Mutter Jüdin war.

Das Buch von Rabiya Kadeer werde ich lesen. Obwohl mich das jedes Mal doch einige Kraft kostet, solche Bücher zu lesen. Es belastet ja nicht wenig - deswegen habe ich meine Gedanken zu Martschenko auch runtergeschrieben, um sie endlich loszuwerden. Wenn ihr sein einziges auf Deutsch erschienenes Buch (soweit ich weiß) seht, lest es! Es ist erstaunlich, dass es trotz des unvorstellbaren Leids trotzdem eine Hoffnung und Licht schenkt.

Montag, 23. Januar 2012

Der Mann, der den Kommunismus zum Einsturz brachte

Da springen doch viele auf mit dem Wort "Gorbi! Gorbi!" auf den Lippen.
Ach Gorbi - er war sicher der beste seiner Zunft, und dass er jetzt Werbung für Louis Vuitton macht, sei ihm gegönnt. Den Kommunismus hat er aber bis zuletzt nicht in Frage gestellt, und der erste und letzte Präsident der UdSSR war er auch. 

Der Mann, der den Kommunismus zum Einsturz brachte, ist Anatolij Martschenko, ein sibirischer Arbeiter, und heute wäre er 74 Jahre alt geworden. Es gibt ihn nicht mehr, dem man gratulieren könnte. Ich gratuliere daher mir selbst, dass es ihn gab und dass ich ihn kenne. 




Martschenko wurde 1938 in einer sibirischen Provinzstadt in einer Familie von Arbeitern geboren. Beide Eltern konnten weder lesen noch schreiben. Martschenkos spätere Erinnerungen an die unsagbare Armut seiner Kindheit sind erschütternd. Sein Weg schien vorgezeichnet. Nach 8 Klassen Schule wird er Bohrmeister in einem Wasserkraftwerk. Mit 19 wird er wegen einer Schlägerei festgenommen und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Mich hat es sehr beeindruckt, dass er die Tatsache seiner Unschuld (er hat sich an der Schlägerei gar nicht beteiligt) später gar nicht erwähnen wollte: Mit dem berechtigten Argument, dass dies nichts zur Sache tut. 
Er flieht und versucht die Grenze zum Iran zu überqueren (das Bewusstsein, dass man in der Sowjetunion nicht leben kann, hatte er wohl schon sehr früh). Er wird festgenommen und wieder verurteilt - diesmal als "politischer Gefangener". Das bereitet seine spätere Laufbahn: In den "Versandgefängnissen" und in Lagern kommt er in Kontakt zu den anderen "politischen Häftlingen", den Dissidenten. Als Autodidakt bildet er sich unentwegt. Für mich persönlich ist es unfassbar, dass ein Mensch aus den einfachsten Verhältnissen das Wesen der kommunistischen Ideologie selbst begreift und sich diesem Verbrechen stellt. Während die meisten der "Politischen" noch Lenin nachtrauern und meinen, die Sowjetunion habe die "sozialistischen Ideale verraten", sieht Martschenko in der Kommunistischen Partei eine Verbrecherbande und im KGB eine Verbrecherorganisation. Bei seinen späteren Festnahmen, vor Gericht, im Gefängnis, in den Jahren des sibirischen Exils weigert er sich mit der Macht zu kooperieren und ignoriert sie völlig mit diesen Argumenten. Ich weiß nicht, ob es viele Menschen von dieser Sorte gab. 
Nach seiner ersten Lageraufenthalt schreibt er sein Buch "Meine Aussage" (Ins Deutsche wurde der Titel mit "Meine Aussagen" im Plural übersetzt - ich halte es für wenig gelungen, da die eindeutige juristisch-gerichtliche Konnotation meines Erachtens verschwindet). Das Buch wird in den Westen verschafft und macht Furore. In Russland wird Martschenko als Samisdat-Autor bekannt. I nseinen wenigen Jahren in Freiheit engagiert er sich als Menschenrechtler, warnt vor dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei und wird Tage später verhaftet. 
Zwei weitere autobiographische Bücher folgen - heimlich geschrieben und heimlich publiziert, man kann sich diese Strapazen kaum vorstellen. 
1981 wird Martschenko zum letzten Mal verhaftet. Im Sommer 1986 tritt er in den Hungerstreik mit der Forderung, alle politischen Gefangenen in der Sowjetunion freizulassen. Dieser Hungerstreik ist ein Rätsel: Martschenkos Freunde beschreiben ihn als einen vernünftigen Menschen, der sich nicht zum Freitod entschließen würde (zumal in der Freiheit seine Frau und sein Sohn auf ihn warteten). Offenbar hat Martschenkos Intuition oder auch  sein Wissen ihn nicht verraten: Die Zeit war reif, solche Forderungen aufzustellen. Nach 117 Tagen bricht er seinen Streik ab. Mehr weiß man nicht - Kontakte nach außen waren verboten, mit seiner Frau kommuniziert Martschenko mit chiffrierten Briefen. Zwei Wochen später kommt es zu einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands (nach den Lageraufenthalten war Martschenko eh auf einem Ohr taub, hatte eine Hirnhautentzündung und wurde im Winter 1984 mit unbekannten Folgen vom Wachpersonal zusammengeschlagen). 

Er stirbt am 8. Dezember 1986. Man wird nie erfahren, woran er wirklich gestorben ist. Man wird nie erfahren, wen er in seinen letzten Tagen gesehen hat, was er gesprochen hat, was er gewusst hat. 
Zur Erinnerung - zeitgleich wirbt Wladimir Putin in Dresden seine IMs ein. Myke Tyson wird Weltmeister. Im Radio läuft "Brother Louie". Zwei Wochen nach Martschenkos Tod ruft Gorbatschow Andrej Sacharow in dessen Gorki-Exil an und lässt ihn zurückkommen. Danach kommen nach und nach alle politischen Gefangenen der Sowjetzeit frei. 

Und jetzt? Martschenko ist seit 26 Jahren tot. Putin lässt Wahlen fälschen, sich im Westen hofieren und unterzieht sich Botox-Behandlungen. Menschen, die Martschenko verfolgt und gequält haben, sind wohl zum großen Teil noch am Leben. Der FSB lässt große Feiern zu seinen "Jubiläen" ausrichten. 

Ich habe eine Faszination für Menschen mit außergewöhnlichen Schicksalen (Dissidenten, Künstler, Diktatoren, Serienkiller). Mich interessiert immer wieder, was sie gedacht haben, wie sie gefühlt haben, was ihnen die Lebenskraft gab. Anatolij Martschenko ist ein Ausnahmefall. Das ist ein Mensch, der so viel Mut, soviel Intelligenz und so viel Kraft besaß, dass ich mich immer wieder frage: Woher nahm er diese Kraft? Es finden sich keinerlei Anzeichen dafür, dass er gläubig war. Wie aber konnte er fast sein ganzes Erwachsenenleben hinter Gittern verbringen, und das auch noch bewusst? Teilweise beantwortet er dies selbst im Vorwort zu "Meine Aussage": 

"Als ich im Wladimirer Gefängnis saß, fühlte ich immer wieder Verzweiflung. Hunger, Krankheiten und  - vor allem - Hilflosigkeit, die Unmöglichkeit, gegen das Böse zu kämpfen brachten mich immer wieder auf den Gedanken, einen Wachmann zu überfallen - mit dem einzigen Ziel, zu sterben. ... Eins hat mich davon abgehalten, eins hat mir die Kraft gegeben, diesen Albtraum zu überleben - die Hoffnung, dass ich herauskomme und darüber erzählen werde, was ich erlebt hatte. Ich habe mir selbst das Wort gegeben, für dieses Ziel alles auszuhalten und zu erdulden."  

Der Sowjetstaat hat einen ehrlichen, klugen und unnachgiebigen Menschen vernichtet - der letztlich über den Tod hinaus gesiegt hat. Warum musste das alles sein? Ich weiß nicht einmal, warum ich das alles hier schreibe und ob das jemand interessiert. Anatolij Matschenko hätte heute noch leben können. In Russland ist er kaum bekannt, und die Erinnerung an ihn wird wahrscheinlich mit den Jahren immer mehr verblassen. Kann man "für etwas sterben"? Stirbt man immer "umsonst"? Kann man auch im Tod über eine seelenlose Maschinerie siegen? 
Egal, heute trinke ich mal ein Gläschen auf sein Wohl im Himmel.